Ulrich Pohlmann
GUGLIELMO PLÜSCHOW
(1852 - 1930)
Ein Photograhp aus Mecklenburg in Italien
Uwe Scheid gewidmet
 
Mein Dank gilt Uwe Scheid, dem dieser Artikel gewidmet ist und dessen großzügige Schenkung von Originalphotographien und -negativen die Grundlage für die Bebilderung dieses Kataloges schuf. Der Beitrag ist eine erweiterte Fassung meines Aufsatzes "Wer war Guglielmo Plüschow?", erstmals veröffentlicht in der von Timm Starl herausgegebenen Zeitschrift Fotogeschichte, 8Jg., Heft 29, Frankfurt am Main, 1988, S. 33 - 38.

 

Seit dem 18. Jahrhundert verkörperte Italien dank seines kulturellen Erbes aus der Antike und Renaissance eines der beliebtesten Reiseziele des bildungsbeflissenen Adels und Bürgertums aus Mittel- und Nordeuropa. Die Faszination, die von Italien als klassischem Reiseland ausging und den Aufenthalt zu einem Höhepunkt der mediterranen >Grand Tour< werden ließ, rührte aber auch her von der exotischen "Andersartigkeit" des Landes und seiner Bevölkerung. Italien setzte sich dank der landschaftlichen Schönheit und der Vitalität seiner Bewohner deutlich von den zivilisatorischen Ausprägungen der nordeuropäischen Lebensart ab und stellte für den Reisenden aus dem industrialisierten Norden eine Art paradisischer Gegenwelt dar. Aufgrund der Naturschönheit, dem üppigen Reichtum der Nahrungsmittel, dem milden Klima und dem kulturhistorischen Erbe entrückte der Süden geradezu in eine mythische Sphäre, die die Vorstellungen eines irdischen Arkadiens und Goldenen Zeitalters nährte. Gleichwohl blieb das Verhältnis der ausländischen Besucher zum Reiseland Italien ambivalent. Die chaotisch anmutende, unkontrollierbare Vitalität und der als fremdartig empfundene Synkretismus aus Katholizismus und Magie, der insbesondere in der süditalienischen Bevölkerung weit verbreitet war, löste bei dem Mitteleuropäer tiefsitzende Irritationen aus. Man fühlte sich zu dem "kuriosen" Charakter und der profanen "Primitivität" der Bewohner hingezogen und empfand gleichzeitig gegenüber der südlichen Lebenskultur Distanz und Ablehnung, um die eigene Kultur letztlich als höchste zivilisatorische Entwicklungsstufe einer im stetigen Fortschritt begriffenen Evolution zu postulieren. Derart kennzeichneten Begriffe wie "Nord" und "Süd" keine rein geographische Abgrenzung, sondern beinhalteten vielmehr ein politisches und soziales Werturteil, dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen.

Zu den zahlreichen ausländischen Photographen, die sich im 19.Jahrhundert in Mittelitalien und vorzugsweise in den Metropolen Rom und Neapel niederließen, zählte auch der aus Frankfurt gebürtige Giorgio Sommer (1834-1914), der in Neapel ein Atelier für Portrait- und Landschaftsphotophie betrieb und Touristen mit Veduten italienischer Kulturdenkmäler versorgt. (1) Besondere Popularität genossen Darstellungen von Vertretern traditioneller Berufe und naturbezogener Lebensformen oder folkloristische Motive aus dem neapolitanischen Straßenleben. Bildtypen wie der Straßenhändler, der Fischer, die Wasserträgerin, der Bettler, die Straßenmusiker ("pifferari"), Szenen aus der >festa popolare< mit Tarantella-Tanz gehörten ebenso wie die Darstellungen von Makkaroniessern zum gängigen Repertoire der massenhaft produzierten Sammelbilder für das Photoalbum. Die Funktion dieser Aufnahmen,auch >scene dal vero< genannt, bestand jedoch weniger in der wirklichkeitsnahen und getreuen Dokumentation des Alltagslebens, als vielmehr in der Inszenierung des Alltags als idyllische Gegenwart. Insbesondere die folkloristischen Motive bestärkten den mitteleuropäischen Reisenden in seinen Vorstellungen vom süditalienischen Alltagsleben, das für ihn aus einer genialistischen Mischung aus >dolce far niente< (dem süßen Nichtstun) und sporadischem Fleiß bestand und ihm das Lebensgefühl im Süden als so konträr zur Organisation des öffentlichen Lebens in seiner Heimat im Norden erscheinen ließ.

Im letzten Viertel des 19.Jahrhunderts gewann nun ein neuer Bildtypus an Bedeutung, der uns von in Mittel- und Süditalien ansässigen deutschen und italienischen Photographen überliefert wurde. Es ist die Rede von Photographien des weiblichen und männlichen Aktes. Vergegenwärtigen wir uns,daß sich die Tradition der Aktphotographie auf die Frühzeit des Mediums in den 1840er Jahren zurückverfolgen läßt. Damals hatten sich einige Vertreter der gewerblichen Atelierphotographie auf die Herstellung sogenannter "Akademien" spezialisiert, die den Künstlern als Studienmaterial und Bildvorlage dienen sollten. In der Regel waren diese Kompositionen der für die "Akademien" posierenden Modelle dem bildnerischen Kanon der Antike, Renaissance und Barock entlehnt. Auf einen anderen, ungleich lukrativeren Bereich, der jedoch ausschließlich auf einen männlichen Abnehmerkreis beschränkt blieb, hatten sich zahllose, heute meist in Vergessenheit geratene Photographen verlegt : Die Herstellung von Erotica, deren Verbreitung um 1860 bereits derart fortgeschritten war, daß der französische Photograph Disdèri die fortgeschrittene Kommerzialisierung der Aktphotographie und die "ekelerregenden Nuditäten, welche die physischen und moralischen Hässlichkeiten derer erschreckend treu wiedergeben, die für Geld zu diesen Bildern Modell standen", vehement brandmarkte. Allein ein im Jahr 1857 beschlagnahmtes Lager eines englischen Photographen beinhaltete über 130.000 verschiedene Abzüge und 5000 Stereoskopien erotischer Szenen.

Einen wesentlichen Einschnitt in die Geschichte der Aktdarstellung markierten die Arbeiten der in Italien von 1880 bis 1910 tätigen Photographen Wilhelm von Gloeden, Guglielmo Plüschow und Vincenco Galdi. Ihre Aufnahmen erfreuten sich insbesondere in Deutschland, England und Nordamerika großer Beliebtheit.

Während bis 1890 der Akt im allgemeinen im Atelier oder Innenraum fotografiert wurde, begannen Gloeden, Plüschow und Galdi italienische Modelle >en plein air< - im Freilicht - aufzunehmen. Obwohl die Stellungen, die die Fotografen ihre Modelle einnehmen ließen, keineswegs frei von studierter Pose waren und antikisierende Assessoires den Bezug zur Tradition der akademischen Malerei nicht leugnen konnten, repräsentierten sie die Sehnsucht nach einem von moralischen Zwängen befreiten Lebensgefühls, das sich in den zivilisationsgeplagten Ländern Mitteleuropas nicht so recht entwickeln konnte. "Zwischen Birke und Heide aber - dem Typus einer norddeutschen Landschaft, da kann man sich schwer daran gewöhnen, die Nacktheit des Menschen als Selbstverständlich hinzunehmen, man wird über das Gefühl des >Ausgezogenseins< nicht hinauskommen". (2) Vielmehr wurde der nackte Mensch als Sinnbild einer arkadischen Existenzform in der Rückbesinnung auf den Schönheitskanon der Antike gesucht, wie auch aus Publikationen, wie Heinrich Bulles im Jahre 1899 erschienenes Buch "Der schöne Mensch im Altertum", deutlich wird. Während in der Kunstphotographie, der maßgeblichen photographischen Bewegung der Jahrhundertwende, der Akt durch unscharfe Wiedergabe des Motives, Edeldrucktechniken oder Weichzeichnerobjektive zur undeutlichen Kontur verklärt wurde, nahmen die Fotogrfen Gloeden, Plüschow und Galdi nur selten Korrekturen am Negativ und Abzug vor. Körperliche Details - seien es Spuren der getragenen Kleidung, schmutzige Hände und Füße - traten ohne Beschönigung im Akt oder Portrait hervor. Diese Praxis stand - ebenso wie die Aktdarstellung von Paaren - im deutlichen Widerspruch zur idealisierten Wiedergabe des unbekleideten Körpers, dessen Geschlechtsmerkmale gewöhnlich durch Retusche "verunklärt oder beseitigt wurden. Da die persönlichen Merkmale der Modelle derart massiv in den Vordergrund traten, gerieten die Aktstudien zu realistischen und authentischen Aktportraits, in denen der ungeschönte Verismus des "vero nudo" dominierte. Wegen der langen Belichtungszeiten mußten die Modelle oft sekundenlang unbeweglich verharren. Auf diese Weise entstand eine Art Dialog zwischen Kamera und Modell, der in einer direkten, körperlich spürbaren Gegenwärtigkeit der vor der Kamera Agierenden seinen Ausdruck fand. Auch die Kopiertechniken förderten das realistische Erscheinungsbild, denn die Photographen verwendeten vornehmlich sogenannte Albuminpapiere, die eine kontrastreiche, kein Detail unterschlagene Wiedergabe des menschlichen Körpers mit sich brachten.

Der bekannteste unter ihnen war zweifellos der aus Mecklenburg stammende Adlige Wilhelm von Gloeden, der sich um 18880 auf Sizilien in Taormina niederließ, wo er bis zu seinem Tode im Jahre 1931 lebte und als Photograph wirkte. Sein Atelier galt als Treffpunkt der ästhetizistischen Kultur des Fin-de-Siècle, wofür Namen wie Oscar Wilde oder Sarah Bernhard stehen, die sich im Gästebuch Gloedes verewigt haben. (3) Weniger Popularität als Gloeden besaßen die beiden in Rom tätigen Photographen Guglielmo Plüschow und Vincenzo Galdi. Ihr Wirken bleibt auch heute noch weitgehend im Dunkeln, da von ihnen nur wenige verläßliche biographische Daten überliefert sind.

Bereits 1897 hatte der englische Amateurphotograph und Kritiker Robert Hobart Cust in einem Beitrag in der englischen Fachzeitschrift "The Photogram", der mit den populären männlichen Freilichtakten und Genreszenen aus Süditalien der Fotografen Gloeden und Plüschow bebildert war, beklagt, daß "Signor Plüschow" trotz seiner "gleichsam bewunderungswürdigen Leistungen" international noch jene Anerkennung und Wertschätzung versagt geblieben sei, die Gloeden in künstlerischen Kreisen des englischen Fin-de-Sièlce schon längst erlangt hatte. (4) Doch wer war der Photograph Plüschow, der bis heute im Schatten seines berühmten Zeitgenossen und Verwandten Gloeden steht und aus diesem nicht heraustreten konnte und wollte? Während Gloedes Lebensstationen in Folge seiner regen Teilnahme an den photographischen Salonausstellungen, der mehrfachen Konfiszierung des Bildarchives durch die Faschisten in den 30er Jahren und der in Taomina hinterlassenen Lebensspuren bezeugt und rekonstruierbar waren, nährten sich Informationen zu Plüschows Existenz ausschließlich aus literarischen Quellen. Eine knappe Notiz des französischen Romanciers Roger Peyrefitte in der fiktiven Autobiogrphie Gloedens "Les amours singuliers" (5), die nach ihrer Veröffentlichung in Italien 1958 dort die Nachforschung zu Person und Werk Gloedens von neuem anregte, wird Plüschow als Vetter Gloedens bezeichnet. Nach Schilderung Peyrefitte konkurrierten beide Photographen über ein Jahr in "loyaler" Rivalität, bis eine Übereinkunft getroffen wurde, nach der Plüschow das photographische Terrain des weiblichen Aktes und Gloeden das Monopol des männlichen Aktes überlassen wurde. Wie aus Veröffentlichungen Plüschows in der Zeitschrift "Die Schönheit" ab 1903 ersichtlich wird, hat Plüschow aber auch zahlreiche Männerakte neben Bildnissen römischer und neapolitanischer Jugendlicher aufgenommen. Der italienische Journalist Pietro Nicolosi wiederum behauptete 1959, daß Plüschow seinem Vetter die Anfänge photographischer Praxis in Rom bzw. Neapel vermittelt habe. (6)

Bei der Durchsicht der damaligen photographischen Fachliteratur findet sich nun eine Fülle von Bildveröffentlichungen des Autors Plüschow in deutschsprachigen und englischen Zeitschriften (7) und in populär- und pseydowissenschaftlichen Publikationen der Körperkultur- Bewegung der Jahrhundertwende. (8) Doch scheint Plüschow weder national noch international eine der zahlreichen Photoausstellungen zwischen Dresden, London und New York beschickt zu haben, so daß keine Preismedaillen oder "ehrenvolle Anerkennungen", mit dem Namen verbunden, Erwähnung fanden. (9)

Als Folge eines fehlenden biographischen Gerüstes blieb die Person Plüschow geradezu ein Phantom, deren Existenz sich einzig durch die publizierten Photographien und die rückseitigen Vertriebsstempel bezeugen ließ. Der unbekannte Lebenslauf Plüschows gab wiederholt Anlaß zu überraschenden Spekulationen und Schlußfolgerungen. So vermutete man anläßlich der Ausstellung "Wilhelm von Plüschow,chi eri?" in Rom 1984, daß der Name Plüschow einzig ein Pseudonym repräsentiere, mit dessen Hilfe sich Gloeden an dem lukrativen Vertrieb weiblicher Aktstudien in Mittelitalien beteiligt habe. (10) Tatsächlich sind die Photographien Plüschows und Gloedens wegen ihrer formalästhetischen Entsprechungen, der Inzenierung sich gleichender Modelle und Aufnahmelokalitäten, häufig zum Verwechseln ähnlich. (11) Und solange das Bildarchiv Plüschows, das nach bisherigen Erkenntnissen mehr als 12.000 Motive beinhaltet, noch nicht wiedergefunden worden ist, bleibt eine eindeutige Autorenzuschreibung bei den Aufnahmen bisweilen schwierig. (12)

Plüschow verwendete das gleiche Aufnahmeformat- Glasnegative im Format 18 x 24 cm und 13 x 18 cm - und die gleichen photographischen Verfahren wie Gloeden, jedoch zeigen Glasnegative aus seiner Hand noch seltener retuschierende Eingriffe. Wegen ihrer motivischen Ähnlichkeit sind die Aufnahmen Plüschows und Gloedens gelegentlich einzig an den Requisiten der Inszenierungen zu unterscheiden. Bei einem Großteil der Aufnahmen Plüschows ist ein Hinterhof der Schauplatz der Inszenierungen, wobei das antikisierende Beiwerk, Gipse klassischer Statuetten, trivial anmutende >falsch< Vasenmalereien oder filigrane Mäanderbänder unabkömmlich schienen und die Aktdarstellung letztlich als Sittenbilder und Tableaux Vivants kulturhistorisch legitimierten. Als Hintergrund diente häufig ein aufgespanntes helles Leinentuch oder ein mit Holzrosetten versehener Türrahmen, der gelegentlich den Blick in ein Rauminterieur freigibt. Während Gloeden den männlichen Akt nach antikem Vorbild kunstvoll drapierte und in vom Betrachter abgewandten Posen festhielt, bevorzugte Plüschow die unverhüllte, frontale Darstellung. Die Modelle, deren Körper oft noch die Spuren getragener Kleidung aufwiesen, stammten meist aus dem städtischen Proletariat in Rom und Neapel.

Die wenigen verläßlichen Informationen zur Person Wilhelm Plüschows und der Familie Plüschow finden sich nun in der Stammtafel der Familie Crull. (13) Demnach wurde Wilhelm Eduard Hermann Gottlieb Plüschow am 18.August 1852 als ältestes von sieben Kindern des Oberforstmeisters Friedrich Carl Eduard Plüschow und dessen Frau Charlotte Wilhelmine, gebürtige Crull, in Wismar geboren. (14) Die Mutter Charlotte Plüschow war eine jüngere Halbschwester des großherzoglichen Forstmeisters Hermann von Gloeden, dem Vater Wilhelm von Gloeden.(15) Der Vater wurde 1808 als uneheliches Kind des Großherzogs Friedrich Ludwig von Mecklenburg - Schwerin und Luise Charlotte Ahrens geboren und erhielt den Namen Friedrich Carl Eduard Plüschow, vermutlich nach dem Gut Plüschow, welches Friedrich Ludwig 1802 erworben hatte. Er stand in Diensten am Hofe des Großherzogs Friedrich II. von Mecklenburg - Schwerin, wo er eine gesellschaftlich geachtete Stellung einnahm und es zu Lebzeiten zu beträchtlichem Vermögen brachte. In Wismar unterhielt er für die neunköpfige Familie ein großherrschaftlich geführtes Haus und verkehrte unabhängig von seiner beruflichen Tätigkeit regelmäßig am großherzoglichen Hof.

Über Wilhelm Plüschows Jugend ist nichts bekannt. Vielleicht sind Nachrichten über diese auch nachträglicher Ächtung innerhalb der Familie zum Opfer gefallen, denn ob seiner Tätigkeit als Aktphotograph galt Wilhelm später als persona non grata, und seine Existenz wurde gemeinhin in Familiengesprächen totgeschwiegen. Auch in den photographischen Erinnerungsalben scheint sein Bildnis - mit einer Ausnahme - aus der Familienchronik getilgt worden zu sein.

Stattdessen existieren ausführliche Informationen über den Werdegang seiner jüngeren Geschwister. So war Anna Plüschow (1856 - 1917), eine der vier Schwestern, in Paris als Malerin akademisch ausgebildet und als solche auch tätig, ohne jedoch jemals materiell auf den Verkauf ihrer Bilder angewiesen zu sein. (16) Wilhelm Plüschows Bruder Eduard (1855 - 1911) wiederum hatte sich nach einer erfolglosen Militärlaufbahn als Journalist in Rom zwischen 1875 und 1880 niedergelassen. Ob die Übersiedlung Eduard Plüschows in die römische Metropole mit der bereits erfolgten Ausreise Wilhelm Plüschows nach Italien in einem Zusammenhang steht, kann nur vermutet werden, denn wahrscheinlich hatte Wilhelm Anfang der 70er Jahre Deutschland bereits verlassen. Nach der Heirat mit Hermine Wellsiek, Tochter eines wohlhabenen Zigarettenfabrikanten, führte Eduard Plüschow in Rom ein offenes Haus, wie sich Isot Plüschow erinnert. "Die Eltern hatten, wie fast täglich, Besuch von Freunden aus Roms Künstlergemeinde. Maler, Literaten und Musiker waren um den gastlichen Tisch des großen Speisezimmers versammelt." (17) Nach dem Tode seines Schwiegervaters kehrte Eduard Plüschow nach Deutschland zurück und war in seinen letzten Lebensjahren als Konservator im Kupferstichkabinett des Landesmuseums in Schwerin tätig. Aus der Ehe stammte der prominenteste Namensträger der Familie Plüschow, der Forschungsreisende und Flieger Gunther Plüschow, der im ersten Weltkrieg als "Flieger von Tsingtau" bekannt geworden ist. (18)

Nach den Angaben der Stammtafel der Familie Crull verdiente sich Wilhelm Plüschow in Rom seinen Lebensunterhalt zunächst als Weinhändler, da er angeblich von seiner Familie nur selten finanzielle Zuwendungen erhielt. Spätestens Anfang der 90er Jahre ist er jedoch in Neapel, im Stadtteil Mergellina, 2a Rampa di Posillipo 55, als Photograph nachweisbar. (19) Dann verlegte er seine Tätigkeit nach Rom und unterhielt vorerst in der Via Sardegna 35 und später am Corso Umberto 133 ein Photoatelier. (20) Wohl in dieser Phase fällt auch die Italisierung seines Vornamens in "Guglielmo".

Der früheste Hinweis auf Guglielmo Plüschows Wirken als Aktphotograph in Rom stammte von dem englischen Verleger Gleeson White in einem Artikel über Aktphotographie in der renomierten Kunstzeitschrift "The Studio" im Jahre 1893, in deren Ausgabe auch ein Beitrag über Aubrey Beardsleys Salomé- Illustrationen erschien. White lobte Plüschows "wunderbare Serien (...), die allen gut bekannt sind, die an diesem Sujet Interesse haben, für ihre Vorzüglichkeit und künstlerische Komposition". (21) Wenige Jahre später, gegen 1896/97, hatte Plüschow, ähnlich wie sein Vetter Gloeden, eine ausgedehnte Reise durch die mediterranen Länder Tunesien, Ägypten und Griechenland unternommen, währenddessen er eine große Anzahl von Landschaften, Akten und orientalischen Genremotiven photographisch festhielt. Im Jahre 1897 suchte ihn der Engländer Robert Cust in Rom auf und wählte aus diesen Arbeiten und Plüschows Archiv mehrere Bilder aus, die in "The Photogram" zur Veröffentlichung kamen. Im Vergleich mit Gloedens Arbeiten sah Cust die Landschaftskompositionen Plüschows wegen ihrer Nähe zu Werken der präraffaelitischen Malerei als die eigentlich bildnerische Leistung des Photographen an. (22)

Als gewerblich tätiger Berufsphotograph war Plüschow im römischen "guida Monaci" von 1901 bis 1909 verzeichnet. Wie ein Fund von 58 Originalnegativen Plüschows aus dieser Zeit veranschaulicht, die heute im Fotomuseum im Münchner Stadtmuseum aufbewahrt werden, umfaßte das Repertoire des Photographen Portraitaufnahmen, aber vor allem Aktaufnahmen von weiblichen und männlichen Modellen. Wegen dieser Motive mußte sich Plüschow, wie aus einer Notiz in der sexualwissenschaftlichen Studie "The Intersexes" von Xavier Mayne hervorgeht, vermutlich in Folge des Skandals um den Industriellen Alfred Krupp auf Capri 1902 wegen "gewöhnlicher Kuppelei und Verführung Minderjähriger" vor einem römischen Gericht verantworten. Mayne berichtet : " Es handelte sich um einen Prozeß, in den eine große Anzahl von Personen der Oberschicht und Angehörige sämtlicher Nationalitäten, Berufe und sozialer Herkunft verwickelt waren. Diese Angelegenheit wurde erst viele Monate nach der Verhaftung (Plüschows) und seiner Assistenten im Studio zu Gericht gebracht. Deren Verhaftung wurde bald vorgenommen, nähmlich in Beziehungen mit einem Jugendlichen <cirus romanus>, in dem Anwesen des Photographen gefunden wurde. Der ünglückliche Photograph wurde während der langen Verzögerung zwischen seiner Verhaftung und dem Prozeß festgehalten. Man sagte, weil die italienischen Autoritäten möglichst vielen Personen die Möglichkeit geben wollten, aus Rom zu entfliehen und dem Erscheinen vor Gericcht zu entgehen. Eine große und außerordentlich komprimittierende Korrespondenz zwischen P(lüschow) und Kunden aus aller Welt wurde beschlagnahmt. Der Photograph hatte sich lange auf männliche Akt->Studien< spezialisiert und ein gutgehendes Geschäft mit solchen Porträts der >tipi nudi e ben membrati< entwickelt, wie auch verschiedene andere italienische Photographen, eingeschlossen ein naher Verwandter P(lüschows) in Taomina. Der Maler wurde zu acht Monaten Gefängnis und einer hohen Geldstrafe verurteilt. Die Affäre wurde, wenn möglich, aus lokalen Zeitungen herausgehalten, und zur Befriedigung aller Betroffenen trug ein Generalstreik der Drucker der Tageszeitungen in Rom dazu entsprechend bei. Nach den letzten Berichten wurde P(lüschow) ordnungsgemäß aus dem Gefängnis entlassen und hat in Rom sein Geschäft in gewohnter Weise wieder aufgenommen." (23)

Nicht nur in Italien sondern auch in Deutschland war die öffentliche Schaustellung von gemalten oder photographierten Akten mit juristischen Anfeindungen verbunden. Als Max Slevogt sein Gemälde "Danae" aus der Jahresausstellung der Münchner Sezession auf Veranlassung der Jury und nach heftigen Protesten entfernen mußte, hatte die "Nuditätenjagd" noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. Als Folge der Zensur der "Lex Heinze" fand 1907 vor dem Berliner Landgericht gegen Karl Vanselow, den Herausgeber der Zeitschrift "Die Schönheit", ein Prozeß wegen der Verbreitung "unzüchtiger Schriften" statt, in dessen Verlaufe Künstler und Literaten wie Hans Thoma, Professor Gurlitt, der Bildhauer Harro Magnussen, der Literaturhistoriker Prof. Adolf Bartels und der Kunstfotograf Nikola Perscheid als Sachverständige und Gutachter zur Verteidigung gehört wurden. (24)

Das Verhältnis Plüschows zum herrschenden Sittenkodex seiner Zeit blieb ambivalent und distanziert. Dieses wird auch am Beispiel der Aufnahmen von Modellen deutlich, die in Verbindung mit der römischen satirischen Zeitschrift "L Ásino" (Der Esel), einem Pendant zum deutschen "Simplizissimus", entstanden sind. Das Porträt eines Chorknaben mit einer Ausgabe von "LÁ´sino" oder ein männlicher Doppelakt vor den Titelseiten des Journals können aufgrund der antiklerikalen Haltung der Zeitschrift als satirisch- blasphemische Mitteilung des Photographen verstanden werden. Doch es wäre verfehlt, Plüschows Aufnahmen primär als verbotene Erotka zu kennzeichnen, denn die Funktionen seiner Photographien waren vielfältig. Im Unterricht an den Kunstakademien wurden sie beispielsweise als Studienmaterial und Bildvorlagen verwendet und es überrascht nicht, daß sie sich auch häufiger in Künstlernachlässen der Jahrhundertwende finden. Davon zeugt auch die publizistische Gegenüberstellung von Photographien Plüschows und berühmten Bildwerken der Antike und Renaissance. (25) Besonderer Beliebtheit erfreuten sich auch Plüschows Kostümstudien der "Ciocciari", die um die Jahrhundertwende für in Rom ansässige Maler und Fotografen Modell standen und aus den Dörfern der Albaner Berge wie Anticoli und Saracenesco stammten. Sie waren wegen ihrer traditionellen Tracht, zu deren Charakteristika die römischen Sandalen aus Ziegenleder, die Hutbinde und Knüpfjoppe zählten. Während die Modelle wegen ihrer natürlichen Unbefangenheit in Künstlerkreisen begehrt waren, wurden sie in der römischen Stadtbevölkerung wegen ihres bäuerlichen Wesens verspottet. (26)

Auch in diversen Publikationen der Ethnologie und medizinischen Anthropologie fanden Aktstudien Plüschows als Illustration Verbreitung. Ein anderer Bereich, den Plüschow als lukrativen Erwerb zu nutzen verstand, waren seine "Photographien nach dem Leben", die in den antiken Ruinen Pompejis und in den römischen Kaiservillen von Tivoli um 1900 aufgenommen wurden. Jugendliche Modelle posierten in der römischen Toga nachempfundenen Gewändern vor der Casa del Fauno als Musizierende oder beim Nachzeichnen römischer Graffitti an den Häuserwänden Pompejis. Darstellungen dieser Art waren bei deutschen Archäologen als Rekonstruktionsversuche antiken Lebens sehr beliebtes Studien- und Anschauungsmaterial. (27)

Gekauft werden konnten diese Aufnahmen nicht nur vor Ort, sondern sie waren auch in Deutschland im Kunsthandel wie in der bekannten und von Thomas Mann beschriebenen Kunsthandlung Littauer in München und bei Grosser in Leipzig oder in Paris bei Roger & Violett erhältlich.

Nach 1910 verließ Plüschow Rom, um sich in Deutschland niederzulassen. Eine seiner letzten Arbeiten in Italien könnten mehrere Landschaftsaufnahmen in der Umgebung Roms bei Torre d``Astura, Nemi, Cività Lavina und der Villa Falconieri gewesen sein, die im Auftrag für einen deutschsprachigen Reiseführer über die römische Campagna entstanden sind und die Plüschow "mit großem Entgegenkommen (...) ganz neu aufnahm, so daß sie in diesem Buche zum erstenmal gebracht werden können." (28) Danach verlieren sich seine Spuren, so daß für den Zeitraum nach 1910 bis zu seinem Tode am 3.Januar 1930 in Berlin, nur wenige Monate vor dem seines Vetters Gloeden in Taomina, keine weiteren Daten überliefert sind. Nach Angabe der Crullschen Familienchronik starb Plüschow unverheiratet und ohne Nachkommen. (29)

Historisch betrachtet hatten sich Plüschows Aktstudien mit dem Ende des 1.Weltkrieges überlebt, als sich ein kraftvoll dynamisches und athletisches Körperideal in der Fotografie durchzusetzen begann. Heute überraschen und faszinieren die italienischen Akte, die den Beginn einer veristischen Aktdarstellung markieren, unverändert aufgrund ihrer physischen Unmittelbarkeit.
Mein Dank gilt Uwe Scheid, dem dieser Artikel gewidmet ist und dessen großzügige Schenkung von Originalphotographien und -negativen die Grundlage für die Bebilderung dieses Kataloges schuf. Der Beitrag ist eine erweiterte Fassung meines Aufsatzes "Wer war Guglielmo Plüschow?", erstmals veröffentlicht in der von Timm Starl herausgegebenen Zeitschrift Fotogeschichte, 8Jg., Heft 29, Frankfurt am Main, 1988, S. 33 - 38.

Anmerkungen:

1: Vgl. Marina Miraglia, Pino Piantanida, Ulrich Pohlmann, Dieter Siegert (Hg.), Giorgio Sommer in Italien. Fotografien 1857-1888, Heidelberg 1992

2: Photographisches Zentralblatt, 1898, S. 381

3: Vgl. Ulrich Pohlmann, Wilhelm von Gloeden - Sehnsucht nach Arkadien, Berlin 1987

4: Robert H. Hobart Cust , Photographic Studies, in The Photogram, No. 41, Vol. 4, 1897, S. 130

5: Roger Peyrefitte, Les amours singulières, Paris 1949, S. 149. Wie aus den erhaltenen Bildbeständen hervorgeht, haben Gloeden und Plüschow männliche sowie weibliche Akte fotografiert.

6: Pietro Nicolosi, I Baroni di Taormina, Catania 1973, S. 44

7: Photographische Correspondenz, 41.Jg., Nr. 504, 1902, S. 490, 494 (Abbildungen Rückenakt eines äthiopischen Mädchen in Kairo; Akt der Süditalienerin J. Viti); Franz Goerke (Hg.), Die Kunst der Photographie, Berlin 1901, S. 128 (Muzizierende Knaben); Arthur Schulz (Hg.), Italienische Acte, Leipzig 1905; Karl Vanselow (Hg.), Die Schönheit, Dresden 1903 ff.; The Photogram, No. 41 und 42, Vol. 4,1897, und No. 57, Vol.5, 1898

8: Carl H. Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers, Stuttgart 1898; ders., Die Rassenschönheiten des Weibes, Stuttgart 1902; ders., Die Darstellung des menschlichen Körpers in der Kunst, Berlin 1914; Albert Friedenthal, Das Weib im Leben der Völker, Bd. 2, Berlin 1911, S. 563 - 569 (7 Abbildungen); Paul Hirth, Eduard Daelen (Hg.), Die Schönheit der Frauen, o.Jg., S. 93, 109, 125, 157, 181, 197, 213, 237, 253; Eduard Daelen, Gustav Fritsch u.a. (Hg.), Die Schönheit des menschlichen Körpers, Düsseldorf 1905; Friedrich Reiche, Streifzüge im Reiche der Frauenschönheit, Leipzig 1924, S. 180, 253 (Abbildungen Mädchen aus Württemberg, Tänzerin aus rätoromanischem Gebiet)

9: Marina Miraglia, Guglielmo Plüschow alla ricerca del bello ideale, in : AFT (Archivio Fotografico Toscano, 4.Jg.,Nr. 7, Juni 1988, S 62 - 67

10. Vgl. Teresa Bianchi, Il Gioco delle parti, in : Piano focale, Nr. 1, Galleria "Il Fotogramma", Rom 1984; V. Mor., Il nudo secondo il misterioso barone von Pluschow, in : Corriere della sera, 19.12.1983. Eine Wiederholung fand die These bei B. Pilat, Wilhelm von Gloeden c/o Guglielmo Plüschow, Galleria Arte Contemporane, Mailand 1987