17.10.1996 ... fuhr heute mit dem Zug von Plüschow nach Bad Kleinen, um die Erschießung von W olfgang Grams am 27.6.1993 durch ein GSG 9 Kommando (Kopfschuß aus nächster Nähe) zu fotografieren. In acht bis zwölf Sekunden fielen mindestens 44 Schüsse. Im W aggon löse ich eine Fahrkarte und mache im Abteil das Fenster auf. Der Schaffner verlangt, obwohl ich alleine im Abteil bin, daß ich das Fenster wieder schließen soll, weil es zu kalt sei. Ich wollte aber mal lüften und sage "es stinkt hier" - er fordert mich auf in den Großraumwaggon zu gehen... erst später wird mir klar, daß ich in einem ehemaligen DDR-Waggon saß und der Beamte dachte, ich meine mit dem Gestank den DDR-Mief.

Ein paar Wochen später erzählt mir Heinrich, daß er als er mal früh morgens um 5 Uhr arbeiten mußte und das Fernsehen einschaltete die Sendung "Bahnstrecken Deutschlands" lief und die Strecke Grevesmühlen - Bad Kleinen abgefilmt wurde... die Kamera durch die Windschutzscheibe starr auf die Gleise gehalten. Mittlerweile hält der Zug in Bobitz. Die Bahnsteige werden umgebaut. Bisher konnte ich die beiden Großbaustellen Bahn und Autobahn nicht auseinanderhalten, weil sie oft so nah zusammenliegen. Auch der alte Bahnhof Plüschow ist jetzt stillgelegt... die alte gußeiserne Uhr geklaut, das Stellwerk geschlossen, neue automatische Schranken am Bahnübergang, ein Betonbahnsteig auf die andere Seite der Straße verlegt, nachts mit Flutlicht versehen... Todesstreifenfeeling .... nächster Stop Bad Kleinen - Bahnsteig 5.

Mit der Skizze des Bahnhofsgeländes aus dem Buch "Bad Kleinen und die Erschießung des Wolfgang Grams" in der Tasche, inspiziere ich den Tatort. In der nächsten Stunde kommen und gehen einige Leute und Züge, es wird hier viel umgestiegen. Das "Billardcafé" ist geschlossen. Ich trinke einen Kaffee am Kiosk auf Bahnsteig 3/4 und stelle mir unter den Wartenden die GSG 9-Beamten in Zivil vor, wie sie auf ihren Einsatz warten, unauffällig. Vor meiner Nase lag Grams auf den Schienen. Dann ist der Bahnsteig menschenleer und ich mache Fotos, gehe noch in den Ort, wo hinter jedem Zaun ein Hund kläfft, kehre aber schnell aus der Trostlosigkeit zum Bahnhof zurück und fahre nach Schwerin ins Museum ... in die nächste Trostlosigkeit? Im Kölner Stadtanzeiger vom 9.7.1996 stand unter einem Foto "einsamer Flaneur auf dem Marktplatz von Schwerin. Wie hier gleichen immer mehr deutsche Ortszentren Geisterstädten". Was aber auf Schwerin nun ausnahmsweise mal nicht zu trifft. Ich sah viele tote Tiere, Obst und Gemüse, Windmühlen und kleinmeisterliche Szenen wie "Die Liebeskranke", "Die Möhrenputzerin", "Der Besuch", "Unterhaltung über einen Brief", "Nachsinnender alter Bauer", "Die Melkerin", "Die Geburt der roten Rose", "Der schwarze Brief", "Affen beim Brettspiel".

31.12.1996

Doris Frohnapfel

1959 geboren in Düsseldorf, lebt in Köln

Publikationen (Auswahl):

Die rote Perücke, Posterkatalog, Text: Bettina Rühl, Korridor Verlag Köln 1990; Reisefotos, Text: Ettore Schmitz, Köln 1992; Attitudes Passionelles, Text: Clemens Heinrichs, Interview: Claudia Webinger, Essen 1993; Ich habe es getan, Texte: Margarethe Jochimsen und Reinhold Mißelbeck, Korridor Verlag Köln 1994; l'm so tired of myself, Text: Sabine Dylla, Verlag für moderne Kunst Nürnberg 1996; Matter of Fact, Publikation zur gleichnamigen Fotoserie, Korridor Verlag Köln 1996