Kompromisslose Kunst oder kunstvolle Kompromisse?
Ein Gespräch mit dem Künstler Udo Rathke über seine Erfahrungen in der Zeit nach der Wende 1989
Heidrun Lorenzen: Herr Rathke, Sie leben und arbeiten seit 1981 als freiberuflicher Künstler in Mecklenburg. Welche Rolle spielte für Sie als Künstler die Kunsthalle Rostock?
Udo Rathke: Vor 1989 war die Rostocker Kunsthalle vor allem ein Ort, zu dem man als Künstler reiste, um originale zeitgenössische Kunst zu sehen, da die wenigen anderen Museen im Norden eine kunsthistorische Ausrichtung hatten. Gerade die Ostsee-Biennalen in Rostock boten eine der wenigen Gelegenheiten in der damaligen DDR, einen Blick auf im Westen entstandene Kunst zu werfen, wenn auch die Auswahl der ausstellenden Künstler bekannter-maßen meist mit ideologischem Hintergrund getroffen wurde. In den achtziger Jahren konnten aber schon verstärkt individuelle künstlerische Handschriften gezeigt werden. 1989 waren als Vertreter der DDR u. a. Hans Vent, Lothar Böhme oder Otto Möhwald mit Arbeiten beteiligt. Mit Felix Droese, Jürgen Brodwolf oder Andreas von Weizsäcker waren westdeutsche Künst¬ler präsent, die sehr radikal neue formale künstlerische Ansätze vertraten. Da es in der DDR in unserer Region kaum anspruchsvolle Ausstellungsorte gab, bot die Kunsthalle für uns Künstler zudem eine wichtige Möglichkeit, eigene Arbeiten ausstellen zu können.
In diesem Jahr jährt sich die Öffnung der innerdeutschen Grenze zum zwanzigsten Mal. Wie haben Sie die Zeit nach 1989, auch im Zusammenhang mit der Kunsthalle Rostock, erlebt?
Die Öffnung der innerdeutschen Grenze1989 und die Wiedervereinigung 1990 brachte auch für die Kunsthalle im Hinblick auf einen Ort der geistigen Auseinandersetzung, als der sie gebaut wurde, aber unter DDR-Bedingungen kaum sein konnte, radikale Veränderungen. Die Bezirks¬kunstausstellung des Rostocker Künstlerverbandes fiel 1989 genau in den Zeitraum der großen öffentlichen Protestdemonstrationen, die in der gesamten DDR stattfanden. Bei der Ausstel¬lungseröffnung am 4. November 1989 ergriffen mehrere Künstler spontan das Wort, um sich zu den politischen Ereignissen zu äußern. Dann gab es 1990 eine erste gemeinsame Ausstel¬lung von Künstlern aus Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein, die durch die Künstler selbst initiiert wurde und die Björn Engholm, damals Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, eröffnete.
Aber die für mich als Künstler wichtigste spürbare Auswirkung der „Wende“ hatte die 14. Ostsee-Biennale „Das steinerne Licht“, die Annie Bardon1 und Norbert Weber als Kurator realisiert haben. Es ist die Ausstellung, von der ich noch heute genau erinnere, wo welche Arbeit platziert war. Diese Ausstellung empfand ich als einen „Mauerfall“ in mehrfacher Hinsicht. Die Stellwände der bis dahin als unverrückbar geltenden kleinteiligen Ausstellungskojen der Kunst¬halle waren zu Gunsten eines raumgreifenden Ausstellungskonzeptes und raumbezoge¬ner künstlerischer Installationen gefallen. Die Vorherrschaft des Vierecks des Tafelbildes mit all seinen formalen und geistigen Einschränkungen wurde gebrochen. Vor allem aber setzte die Ausstel¬lung kompromisslos auf eine künstlerische Qualität von Arbeiten, die wesentlich von einer direkten Bezugnahme zum gesellschaftlichen Umfeld lebten. Eine künstlerische Arbeits¬weise, wie sie in der DDR zumeist nur im Untergrund gärte.
Wie empfanden Sie die Reaktion der Öffentlichkeit auf diese für sie eher ungewohnte Kunst?
Die Reaktionen waren zum Teil hochgradig aggressiv. Speziell die Künstler der Biennale 1992, die mit ihren Arbeiten in den öffentlichen städtischen Raum gingen, gerieten in heftige Auseinandersetzungen mit dem Publi¬kum, dessen Reaktionen auf die Arbeiten sich nur mit den damaligen Befindlichkeiten erklären lassen2. Ein skandalträchtiger Journalismus wählte leider gerade in dieser Zeit eines kompli¬zierten politischen Umbruchs eine konfrontative Sprache: „… Kunsthalle bekam eine neue Direktorin, Annie Bardon, Westimport aus Nürnberg. … westlich importierte Ausstel¬lungsregie wählt westlich orientierte Kunst aus.“3 Umso schwerer hatte es da natürlich eine Kunstvermittlung, die eine international längst übliche künstlerische Sprache einem Publikum nahe bringen wollte, das in dieser Hinsicht ein extremes Informationsdefizit hatte.
Können Sie dafür einige Beispiele nennen?
Gerade in dieser Ausstellung gab es eine Reihe von Arbeiten ganz herausragender Qualität. Raffael Rheinsberg ist ein typischer Künstler der sozialen Plastik, von Joseph Beuys im Zusammen¬hang mit seiner Idee des erweiterten Kunstbegriffs geprägt. Die Installation, die Rheinsberg für den Standort am Kröpeliner Tor konzipiert hatte, ist meines Erachtens auch in seinem Werk eine Arbeit mit einer ganz besonderen formalen wie inhaltlichen Brisanz. Nicht nur die außergewöhnliche Dimension unterscheidet sie von seinen vorhergehenden Arbeiten, die meist auf der Reihung von Fundsachen, oft mit geschichtlichem Hintergrund, basierten. Hier gab es aber keinen zeitlichen Abstand zu den „gefundenen“ Dingen, sie waren direkt aus dem Leben gerissen. Deshalb auch der Schmerz, der sich in den Äußerungen der Betrachter artikulierte.
Eine große Zahl der Arbeiten dieser Biennale hatte eine energetische Ausstrahlung, mit der sie sich dauerhaft in mein Bildgedächtnis einbrannten. Das materialschwere flächige Objekt von Joachim Bandau „Großes Blei-Meer“ reflektierte die Bezugnahme zum Caspar-David-Friedrich-Thema, das Künstler über alle Generationen hinweg immer wieder zu neuer Ausein-andersetzung reizt. Die „Asche-Wand“ von Bente Stokke, poetisch leicht wie bedroh¬lich düster zugleich, war genau auf den Raum hin entwickelt wie alle Arbeiten dieser Ausstellung. Hier hat sich die Kunsthallenarchitektur eines White Cube als ein Arbeitsinstrument für die Inszenierung eines Raumes bewährt. Die präzise Bezugnahme auf den Raum zeichnete alle Ausstellungen aus, die Annie Bardon kuratierte.
Wie reagierten die Künstler auf das Ausstellungsprogramm?
Unter den einheimischen Künstlern gab es sehr unterschiedliche Reaktionen auf das Ausstel-lungsprogramm der Kunsthalle in den 90er Jahren. Die allgemeine Existenzverun¬sicherung trug sicher dazu bei, dass einige Künstler den gewagten Schritt, die Kunsthalle zu einem renom¬mierten Haus der internationalen Kunst umzugestalten, nicht mitgehen wollten. Ein Platz für eigene Ausstellungen schien verloren zu gehen, dabei öffneten sich zur gleichen Zeit zahlreiche andere Orte für Kunst. Kunstvereine gründeten sich im gesamten Bundesland. Ein Museum wie die Kunsthalle Rostock von internationalem Zuschnitt würde den eigenen künstlerischen Ambitionen einen wichtigen Rückhalt in der Region geben können. Eine größtenteils unsachliche Kritik, die noch immer auf einen unseligen Ost-West-Streit baute, machte sich breit. Selbst Künstler, die Ausstellungen wie die von Emil Schumacher begeistert begrüßt hatten, beklagen kurze Zeit darauf in der Presse den Import der „marktwirtschaftlichen Kultur der BRD“4.
Sogar ein Mitglied der Akademie der Künste schrieb in der Ostsee-Zeitung: „Was in den Museen unseres Landes gezeigt wird, ist die Ost-West-Frage.“5 Ein Historiker aus Kühlungsborn schaffte es, eine Debatte in der lokalen Presse loszutreten, die mit Schlagzeilen wie „Auch aus der Nähe holt Ihr die Ferne des Abstrakten“6 oder „Da kommt eine Ausländerin …“ eine Diskussion in der Öffentlichkeit zu entfachen, die an einem wesentlichen Aspekt von künstlerischer Arbeit vorbei ging – dem der Weltoffenheit.
Hatte das irgendwelche Folgen?
Das trug dazu bei, die Basis für die eigene künstlerische Zukunft zu untergraben, die nur in einem Ausstellungsprogramm der Kunsthalle bestehen konnte, das in ein internationales Kunstgeschehen eingebunden ist.
Aber trotz des Gegenwindes, der durch die permanente finanzielle Ausdünnung durch die städtische Politik noch potenziert wurde, hat Annie Bardon es in den Jahren bis 1999 geschafft, zahlreiche starke Ausstellungen für die Kunsthalle zu konzipieren. Ein wichtiges Projekt mit gesellschaftlicher Brisanz war die Ausstellung von Felix Droese, 1993. Provo-zierend war seine Arbeit „Wie ich sehe hat sich nichts verändert.“, für die er fünf Tonnen Bruchglas in den Plastiksaal der Kunsthalle bringen ließ.
Künstlerische Handschriften, die nicht kontemplativ waren, sondern einen Dialog mit dem geschichtlichen und sozialen Umfeld suchten, waren häufig in der Kunsthalle zu sehen. Im Jahr 1997 zeigte Andreas von Weizsäcker in der Ausstellung „vis á vis“ Abformungen von Skulpturen, die sich im öffentlichen Raum befinden. Es war nicht die Abformung des Fried-rich-Franz-Denkmales in Schwerin, das die Gemüter erhitzte, sondern die Abformung der Ringergruppe von Jo Jastram. Unterstellt wurde Andreas von Weizsäcker gar, er würde „Leute wie Jo Jastram öffentlich entthronen“. Das Prinzip des Kopierens, Abformens, in andere Zusammenhänge Stellens ist eine vielfach angewandte Arbeitsweise in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Die Arbeit von Weizsäckers empfand ich gerade unter dem damaligen zeitlichen Aspekt als eine gelungene Allegorie auf die deutsch-deutsche Situation.
In welchem Zusammenhang haben Sie Annie Bardon persönlich kennen gelernt?
Im Schloss Plüschow haben wir nahezu zeitgleich begonnen, einen Kunstverein aufzubauen, in dem wir besonders eine Kunst der Auseinandersetzung mit dem räumlichen und sozialen Kontext fördern wollten. Da lag es nahe, dass man den Kontakt mit Gleichgesinnten im Land suchte. In einem der Symposien, die wir in Plüschow durchführten, äußerte sich Annie Bardon auch über ihre Motivation, mit der sie nach Mecklenburg-Vorpommern kam: „Ich sah die Möglichkeit, in Rostock all diese Wünsche, die ich hatte, zu befriedigen. Und an der Kunsthalle Rostock gab es eine Tradition – die Ostsee-Biennale und es war für mich natürlich die Chance, das zu realisieren, wovon ich immer geträumt hatte – nämlich skandinavische Kunst auszustellen, junge skandinavische Kunst.“7
Einer dieser Künstler war der Isländer Kristjàn Gudmundsson, der 1994 in seiner Einzelaus-stellung in Rostock das Thema Zeichnung radikal durch Rotationsrollen von Zeitungspapier, auf denen Bleiplatten gestapelt waren, interpretierte. Der Norweger Olaf Christopher Jenssen, heute einer der bekanntesten europäischen Maler, war einer der Teilneh¬mer der 15. Ostsee-Biennale 1996, die unter dem Titel „Bekannt(-)Machung“ stand.
Der Moskauer Juri Albert lieferte die signifikanteste Arbeit der Ausstellung: Auf einem überdimensionalen Transparent an der Fassade der Kunsthalle war der Schriftzug „Neue entartete Kunst“ zu lesen.
Musste eine solche Arbeit nicht als provokant empfunden werden?
Diese Arbeit zu zeigen, war in mehrerer Hinsicht mutig. Die Bezug¬nahme zur Nazi-Ausstellung „Entartete Kunst“ musste natürlich heftige Reaktionen hervor¬rufen. Auch unter den beteiligten Künstlern der Biennale gab es konträre Auffassungen, wodurch sogar kurzzeitig das Zustandekommen der gesamten Ausstellung auf der Kippe stand. Aber es war nicht die Rückversicherung auf den Begriff der Freiheit der Kunst, mitsamt ihren Widersprüchen und Eigenheiten, worauf sich Annie Bardon verließ, sondern es war der Bruch mit einer Auffassung von Kunst, die davon ausgeht, dass der Künstler eine Arbeit mit einer ganz bestimmten Aussageabsicht schafft und diese nur in einer Richtung zu interpretie¬ren wäre. Die Arbeit von Juri Albert nimmt bewusst eine mehrdeutige Reflektion auf sich und bezieht gerade dadurch ihre subversive Radikalität.
Das Thema der Biennale 1996 war es, Künstler vorzustellen die in den kommenden Jahren eine Einzelausstellung in der Kunsthalle haben sollten. Die Nennung dieser 15 Künstler gibt einen Eindruck von der konzeptionellen künstlerischen Vision, die Annie Bardon verfolgt hat. Als die Kunstwissenschaftlerin im September 1999 wegen nicht mehr zu überbrückender Differenzen die Kunsthalle verließ, fand diese Vision keine Fortsetzung.
Was erwarten Sie hinsichtlich der Entwicklung der Kunsthalle?
In den letzten Jahren wurden zahlreiche kunstvolle Kompromisse geschlossen, die es ermöglichten, dass die Kunsthalle noch im Focus der Öffentlichkeit blieb. Um die Kunsthalle weiterzubringen als lebendigen Ort der geistiger Auseinandersetzung, der die Welt nicht außer Acht lässt, bedarf es des Bekenntnisses zur Kompromisslosigkeit von Kunst.
Udo Rathke, geb. 1955, studierte von 1976 bis 1981 an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und leitete von 1991 bis1997 das Mecklenburgische Künstlerhauses Schloss Plüschow. Er lebt und arbeitet als freiberuflicher Künstler in Plüschow/Mecklenburg.
Das Gespräch für Dr. Heidrun Lorenzen, Leiterin des Kulturhistorischen Museums Rostock.